Liane Ströbel

Sensomotorische Strategien und Sprachwandel

 

Sensomotorische Strategien & Sprachwandel (Liane Ströbel)

Qu’est-ce qu’une idée? C’est une image qui se peint dans mon cerveau.

(Voltaire, Dict. Phil. Fanatisme)

It is not enough to say that the mind is embodied; one must say how. (Edelman, 1992: 15)

Abstrakt: Unter den aktuell in den Neurowissenschaften diskutierten Themen ist eines für die Linguistik von besonderer Bedeutung: die Spiegelung wahrgenommener Umweltreize im Gehirn −durch Spiegelneuronen. Der bekannteste Beleg dafür ist sicherlich die Tatsache, dass Lachen ansteckt. Doch neben der Empathie für die Stimmung des Gegenüber (vgl. Shamay-Tsoory et al. 2009) ist die Spiegelung auch für die Sprache absolut zentral. Denn auch hier gilt: „imagination is mental simulation“ (Gallese/Lakoff 2005). Dazu passt, dass wichtige Bereiche der Emotionserkennung und Sprachproduktion räumlich nebeneinander liegen, beide in Areal BA 44 (vgl. Rizolatti 2008, Shamay-Tsoory et al. 2009). Um beispielsweise die Bedeutung von dt. begreifen zu verstehen, muss man sich den Prozess des Greifens bildlich vorstellen können (vgl. Gallese/Lakoff 2005, Gallese 2003). Zudem aktiviert –ähnlich wie beim ‘ansteckenden Lachen’ –die Wahrnehmung solcher sensomotorischer Prozesse (sowie allein schon ihre Vorstellung) dieselben Hirnareale wie ihre Ausübung (vgl. Rizzolatti et al. 1996, Calvo Merino 2006, Grafton 2009). Diese Erkenntnisse werfen ein ganz neues Licht auf das Verständnis von Sprachwandelprozessen, die Sprachproduktion per se, als auch für das Sprachverständnis.

Sprache entsteht durch Kommunikationswillen und Gedankenstrukturierungsversuche und ist daher auch immer das Ergebnis von Problemlösungsstrategien (Langacker 2008: 540). Der vorliegende kognitive Ansatz versucht, Motivationen hinter verbalem Sprachwandel aufzudecken. Dabei wird der Schwerpunkt auf dem Französischen und Spanischen liegen, aber auch Entwicklungen in nicht-romanischen Sprachen, wie z.B. im Chinesischen und Japanischen, berücksichtigen. Am Beispiel von statischen (z.B. avoir/tener) und dynamischen sensomotorischen Verben (mit und ohne Bewegungsrichtungsinhärenz, vgl. aller/ir vs. faire/hacer) werden die „conceptual mappings” (Lakoff 1987: 267), die zwischen der „source domain” (der ursprünglich sensomotorischen Bedeutung der Verben) und der „target domain“ (der neuen oder übertragenen Bedeutung) bestehen, untersucht. Alle sensomotorischen Verben weisen konzeptuelle Einfachheit bei gleichzeitiger semantischer Komplexität auf und erfüllen vor allem drei Funktionen: Erstens treten sie verstärkt im temporalen Hilfsverbbereich auf, zweitens fungieren sie als analytische Prädikatisierungsmorpheme (vgl. j’ai peur/tengo miedo, Ströbel 2010, 2011) und drittens erfüllen sie eine wichtige Rolle bei der Einbindung von fremdsprachlichem Material (vgl. Je fais du shopping, hacer clic, etc.). Die Motivation für die Verwendung einer komplexeren analytischen und in Folge expressiveren (auf sensomotorischen Konzepten beruhenden) Konstruktion lässt sich in allen drei Fällen auf ein und dieselbe Strategie zurückführen. Die Aufdeckung eines gemeinsamen Musters hinter diesen drei Funktionen unterstreicht, dass grammatischer Wandel nie kontextlos erfolgt, sondern in einer konkreten Redesituation in Kombination mit Expressivität seinen Ursprung hat. Zudem zeigt die Studie, dass Sprachwandel von drei Faktoren abhängt, nämlich der Existenz, der Transparenz und der Flexibilität dieser Strategie. Neben den Vorteilen dieses kognitiven Ansatzes für die Linguistik an sich, dienen die Ergebnisse auch zur Illustration neuerer philosophischer Ansätze und neuester neurolinguistischer Erkenntnisse.

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